Abgeschickt von Lu am 15 Oktober, 2001 um 05:54:39
Antwort auf: Beispielfrage: Warum eigentlich Esperanto - es gibt doch Englisch? von Lu am 15 Oktober, 2001 um 05:48:22:
Nach meinem Verständnis gibt es heute keine Alternative "Esperanto oder Englisch". Esperanto hat seine eigene Bedeutung und seinen Wert - unabhängig, teilweise ergänzend zum Englischen. Viele Esperantosprecher sprechen auch Englisch - und finden, daß ihnen Esperanto manches ermöglicht, was sie mit Englisch nicht erreichen könnten. Manche sprechen auch wenig oder kaum Englisch - und genießen die Kontakte zu Menschen in anderen Ländern, die Esperanto sprechen.
Ich selbst kann Englisch flüssig lesen und sprechen. Allerdings stolpere ich bei beidem oft: Beim Lesen über neue Wörter und beim Sprechen bin ich mir oft unsicher, ob man das auch wirklich so sagt. Ich fühle mich nicht richtig wohl, wenn ich Englisch reden muß.
Bei Esperanto habe ich schon nach etwa drei Jahren das Gefühl gehabt, daß das meine Sprache ist. Ich habe angefangen, mich gut dabei zu fühlen, wenn ich Esperanto sprach - es war mir mehr und mehr vertraut. Ich wußte fast immer, daß der Satz, den ich gerade gebildet hatte, auch richtig war. Das liegt wohl zum einen daran, daß die Sprachstruktur des Esperanto weniger grammatikalische Formen hat und regelmäßig ist. Zum anderen mag es daran liegen, daß ich regelmäßig Esperanto gesprochen habe - bei den wöchentlichen Treffen des örtlichen Esperanto-Klubs, bei Wochenendtreffen in der Nähe oder im Sommer und Winter bei Esperanto-Wochen in anderen Ländern.
Theoretisch wäre das vielleicht auch mit Englisch möglich - in der Praxis trifft sich aber kaum jemand, um einfach so Englisch zu reden. Englisch reden die allermeisten nur dann, wenn es unumgänglich ist, für den Beruf oder auf Reisen - viele fühlen sich dabei ein wenig unbehaglich. Nach einem Vortrag auf Englisch werden dann Fragen nicht formuliert, weil man sie auf Englisch stellen müßte und sich ungern mit seinen Sprachkenntnissen zur Schau stellt. Und die Pausengespräche sind auf Deutsch oder in anderen Sprachen - die Sprachgruppen sind getrennt.
Selbst wenn man sehr gut Englisch kann und sich vielleicht auch daran gewöhnt hat, Englisch zu sprechen - für die Gesprächspartner trifft das oft nicht zu. Mir hat mal jemand erzählt, in England sei er immer nett aufgenommen worden - in Frankreich hingegen hätte er keinen rechten Zugang gefunden. Ich war erstaunt - ich war oft in Frankreich und konnte das nicht nachvollziehen. Auf meine Nachfrage kam heraus, daß der betreffende in England Englisch gesprochen hatte - und in Frankreich auch. - Das Problem mag in Frankreich stärker sein als in anderen Ländern, vielleicht in Skandinavien seltener - für wenige Menschen in Süd- und Osteuropa ist Englisch eine vertraute Sprache, in der sie ausdrücken können, was sie denken und fühlen.
Esperanto ist Bindeglied einer internationalen Gemeinschaft von Menschen, die sich freiwillig entschieden haben, miteinander Esperanto zu sprechen. Einen Schritt auf die anderen zu zu machen. Den anderen in seiner nationalen Eigenheit und mit seiner nationalen Kultur zu akzeptieren - und den Austausch der Kulturen gleichberechtigt zu gestalten und vielleicht noch durch eine gemeinsame internationale Kultur zu ergänzen. Esperanto ist mehr als nur eine Sprache. Esperanto sprechen ist Ausdruck einer bestimmten Sicht der Welt. Einer Welt, in der man sich auf der gleichen Ebene entgegenkommt.